Gedanken zum Gedenken
Michael Grünberg
In Sögel einen Ort des Erinnerns und des Lernens zu errichten, ist begrüßenswert. Junge Menschen brauchen einen Anstoß zu lernen, welcher Entrechtung die jüdische Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus ausgesetzt war: Jüdinnen und Juden wurden ausgegrenzt, sie wurden diffamiert, ihnen wurde die berufliche Existenzgrundlage genommen. Sie wurden gedemütigt, bestohlen und entrechtet.
Sie wurden zur Zwangsarbeit im Moor gezwungen. Sie wurden vor den Augen der Bevölkerung in Ghettos und Konzentrationslager deportiert. Und am Ende wurden fast alle ermordet. Nur ganz wenige kehrten zurück. Allerdings sollte an diesem Lernort auch untersucht und gelehrt werden, wie sich NS-Täter und NS-Mitläufer verhielten. Es sollte studiert werden, was etwa aus Geschäften jüdischer Bürger wurde, was mit dem Eigentum der Juden gemacht wurde.
Und es sollte nicht zuletzt auch bearbeitet werden, wie sich die Bevölkerung verhielt, als alliierte Truppen im April 1945 endlich den Ort befreiten. Erinnerung allein genügt nicht. Machen wir uns nichts vor. Auch Menschen, die fast zu einem Viertel die AfD wählen, erinnern sich.
Gerade nach den furchtbaren Massakern vom 7. Oktober 2023, die Hamas-Terroristen an der israelischen Bevölkerung verübten, wäre allerorts Entsetzen und Empörung angebracht gewesen – auch Nachfahren ermordeter jüdischer Familien aus Sögel und Lathen leben heute in Israel. Stattdessen bejubelten manche Menschen sogar die Verbrechen, während andere das Geschehene leugneten und die meisten schwiegen – so wie damals?
Unsere Demokratie ist in Gefahr. Antisemitismus ist noch immer das beste Massenbindungsmittel. Dies zu lernen, wäre wichtig.
„Wachsam sein, wenn Menschen das Menschsein abgesprochen wird. Man darf nicht zusehen und schweigen – und muss seine Chance nutzen! Es ist für euch, es ist nicht für mich. Es ist für euch.“
Einführung
von Heiner Schüpp
Dem Judentum, der Religion, seiner Geschichte und Kultur, kann man sich als Deutscher nicht unschuldig nähern. Immer steht man im Schatten von Auschwitz, diesem Synonym für die durchorganisierte Mordfabrik der Nationalsozialisten, in der planmäßig das europäische Judentum vernichtet wurde. Ohne Auschwitz würde die Geschichte des Judentums in Deutschland wahrscheinlich ohne besondere Hervorhebung in die allgemeine Geschichte eingeordnet werden.
Es würde die Geschichte einer Religionsgemeinschaft dargestellt, deren Mitglieder – ich verkürze hier bewusst – in Mittelalter und Neuzeit verschiedensten, vor allem religiös begründeten Verfolgungen ausgesetzt waren und die im Laufe der Zeit ihren Platz in der Gesellschaft als Kauf- und Finanzfachleute, Ärzte, Wissenschaftler und Künstler gefunden hätten.
Die kultischen Besonderheiten wären Gegenstand kunst- und kulturgeschichtlicher Untersuchungen. Die bedeutenden Leistungen jüdischer Deutscher auf den verschiedensten Gebieten von Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik würden hervorgehoben. Das 21. Jahrhundert würde im Zeichen der Säkularisierung vielleicht gar kein Aufheben mehr um die Religionszugehörigkeit machen.
Einzig die christlichen Theologen pflegten angesichts der gemeinsamen Wurzeln noch einen besonderen Dialog mit den Juden. Bei all dem spielte die Geschichte der emsländischen Juden auf Grund ihrer vergleichsweise geringen Zahl eine eher untergeordnete Rolle. Auschwitz hat diese „Normalität“ für immer verhindert.
Weil es wichtig für den Zusammenhang ist, soll die Geschichte der Juden in Sögel, wenigstens ansatzweise, eingebettet in die Geschichte der Juden im Emsland, hier kurz erzählt werden. An anderen Stellen im Buch wird sie ausführlicher dargestellt. Anders als im übrigen Deutschen Reich ist das Judentum im Emsland ein „Spätentwickler“.
Nachrichten über hier lebende Juden haben wir erst vom Ende des 17. Jahrhunderts. So wurde 1683 eine jüdische Familie in Freren erwähnt. Nach Sögel kam als erster Jude Jacob Joseph Fiebelmann aus Haselünne auf der Grundlage eines Geleitbriefs vom 10. März 1767. Dieser erlaubte nach der seit 1662 im Fürstbistum Münster geltenden Judenordnung die Niederlassung unter bestimmten Bedingungen: Die Juden standen unter dem Schutz des fürstbischöflichen Landesherrn und hatten dafür einen Tribut zu zahlen.
Sie durften sich frei bewegen und ihren Geschäften in Handel und Gewerbe sowie als Finanzkaufleute nachgehen. Nichtbefolgung der Bedingungen konnte Geldstrafen bis zum Entzug des Geleits – und damit dem Verlust der Niederlassungsfreiheit – nach sich ziehen.
Im Zuge der Judenemanzipation im Königreich Hannover wurde 1844 aus den jüdischen Gemeinschaften in Sögel und Lathen die Synagogengemeinde Sögel gebildet, etwas später trat Werlte hinzu, 1913 Esterwegen. Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Synagogengemeinde Sögel 192 Mitglieder. Sie war damit eine der mitgliederstärksten jüdischen Gemeinden des damaligen Regierungsbezirks Osnabrück.
Laut der Volkszählung von 1933 gab es unter den 1 793 Einwohnern Sögels 80 jüdische Bürger. Mit ihrem seit 1896 angestellten Religionslehrer und Vorbeter im Gottesdienst Moses Speier, der 1919 sogar zum Stadtverordneten gewählt worden war, konnten sie ihren jüdischen Glauben leben und ihren Geschäften nachgehen. Die meisten Mitglieder waren als Viehhändler tätig.
Im Deutschen Reich änderten sich nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler und die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 sehr schnell die Rahmenbedingungen für jüdisches Leben. Geleitet von der NS-Rassenideologie steigerten sich antijüdische Maßnahmen, die persönliche und bürgerliche Rechte sowie berufliche und wirtschaftliche Tätigkeit einschränkten.
So wurde das Leben für die jüdische Bevölkerung auch in Sögel immer unerträglicher. Einige zogen deshalb weg, die meisten aber blieben. Während des Novemberpogroms von 1938 wurden die Synagogen und Beträume in Papenburg, Lathen, Sögel, Werlte, Meppen. Haren, Lingen und Freren zerstört. Die erwachsenen männlichen Juden wurden verhaftet und für längere Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Die Mehrheit der übrigen Bevölkerung nahm die Verbrechen weitgehend teilnahmslos hin.
Die Zerstörung der Synagogen 1938 war nach dem Boykottaufruf vom 1. April 1933 der sichtbare Auftakt zur Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten. Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939, der den Anfang des Zweiten Weltkriegs markiert, setzte auch der millionenfache Mord in den Gaskammern der Vernichtungslager ein.
Für die verbliebenen emsländischen Juden endete dieser Prozess zunächst mit der Deportation. Am 13. Dezember 1941 wurden aus der Synagogengemeinde Sögel 65 Personen über Bielefeld, daher die Bezeichnung als „Bielefelder Transport“, in das Ghetto Riga deportiert. Am 31. Juli 1942 wurden schließlich die letzten 25 Juden aus Sögel und 10 aus Lathen nach Theresienstadt verschleppt.
Nur wenige Mitglieder der Synagogengemeinde überlebten das Ende der Judenverfolgung, alle anderen wurden in verschiedenen Lagern ermordet. Jüdisches Leben in Sögel war endgültig ausgelöscht. Damit war auch das bedeutende jüdische Kulturerbe untergegangen und damit ein Stück deutscher Kultur unwiederbringlich zerstört. Das apokalyptische Ausmaß der Vernichtung, das die Juden selbst nach einem Wort des Propheten Jeremia „Shoah“ – Untergang – nennen, bleibt für immer unbegreiflich.
Politik und Gesellschaft im Emsland sind einen langen Weg gegangen, um allmählich die Tatsache anzunehmen, dass man ebenfalls Teil der NS-Gesellschaft und deshalb auch mitverantwortlich für die Verbrechen war, die unter dem NS-Regime in deutschem Namen verübt wurden.
Der Zivilisationsbruch, den diese Gewaltverbrechen bedeuten, ist eben nicht nur woanders, sondern auch im Emsland geschehen, unter Beteiligung von Emsländern. Das gilt auch für Sögel. Für die Vermittlung historischer Ereignisse sind historische Orte besonders wirksam. Erinnerung und damit verknüpft Gedächtnis braucht Orte, an dem sie sich festmachen lässt.
Der französische Historiker Pierre Nora hat daraus sein Konzept „Les Lieux de mémoire“ entwickelt, das auch in Deutschland unter dem Titel „Deutsche Erinnerungsorte“ aufgenommen wurde.
Die Überlegungen sind offen dafür, nicht allein bereits bestehende Erinnerungsorte für die Analyse und Vermittlung zu nutzen, sondern auch in der Gegenwart solche Erinnerungsorte zu schaffen. Sie fördern so das Nachdenken über die Geschichte.
Abstrakter betrachtet, geht es dabei um das Gedächtnis einer Gemeinschaft, um ihr politisches Selbstverständnis, um ihre Werte und Normen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern. Gedächtnisorte sind Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum. Sie sind Ausdruck des politischen und geschichtlichen Selbstverständnisses einer Gesellschaft.
Sie sind das Ergebnis einer geschichtspolitischen Aushandlung, an deren Anfang der Wille steht, etwas im kollektiven Gedächtnis zu behalten. Sie sind gedeutete Vergangenheit, in dem Ereignisse zur Erinnerung gemacht werden.
Als soziale Konstruktion speisen sich Gedächtnisorte aus den Bedürfnissen der Gegenwart. Die gemeinsam geteilte Erinnerung spielt für den Einzelnen eine wesentliche Rolle für seine auch emotionale Bindung an die Gemeinschaft (Edgar Wolfrum).
Die Frage, warum sich das Forum Sögel e.V. als zivilgesellschaftliche Gruppe mit der Geschichte der Juden in Sögel befasst ‒ und sei sie wie im Emsland noch so bescheiden ‒, lässt sich also wesentlich nur aus dem bisher genannten Zusammenhang heraus beantworten.
Wenn wir ernst nehmen, was gerade bezüglich des vernichteten jüdischen Lebens in Deutschland immer wieder über „Gedenken“ gesagt wird, geht es nicht ohne Erforschung und Vermittlung geschichtlicher Ereignisse und Prozesse. Sie liefern das Fundament, auf dem Erinnerungskultur aufbaut. Das gilt besonders, wenn es um die Auseinandersetzung mit der „dunklen Seiten“ der je eigenen Geschichte geht.
Betroffenheitsrituale, wie oft zu erleben, greifen zu kurz. Das Engagement des Forum Sögel ist deshalb ein gelungenes Beispiel dafür, dass „der Kampf gegen das Vergessen und für eine wahrhaftige Erinnerung Sache des Bürgers ist“, wie es der französische Philosoph Paul Ricoeur gefordert hat.
Der Gedenkort, den das Forum Sögel geschaffen hat, ist Ausdruck einer pluralistischen und demokratischen Geschichtskultur. Sie wird verstanden als praktischer Ausdruck eines Geschichtsbewusstseins, dass seinen Sitz im Leben in der Gegenwart hat.
Damit eröffnet sich gleichzeitig eine politische Dimension, die vor allem als dauerhafte pädagogische Aufgabe, als Lernort angenommen werden muss. Schließlich gilt das Wort des italienischen Schriftstellers und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi in Bezug auf die Shoah:
„Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“
Als Mahnmal reiht sich der Gedenkort ein in eine auch im nationalen Kontext gewachsene Vielzahl von Erinnerungsorten im ganzen Emsland, die besonders an die Verbrechen während der NS-Zeit erinnern. Sie knüpft dabei als prinzipiell säkulare Erinnerungskultur an Formen religiöser Erinnerungskultur an und ist somit anschlussfähig an die gelebte Gestalt des Gedenkens in Christen- und Judentum.
Deren Grundierung wiederum verbindet Wissen, Emotionalität und Moral, die als bestimmende Elemente gelingender Erinnerungskultur benannt sind. In der Vermittlung wird die geforderte pädagogische Aufgabe des Lernorts dadurch eingelöst, dass mehrere Ebenen des Verstehens angeboten werden.
Da sind zunächst einmal als unmittelbar sichtbare Anlaufpunkte die Installation des Stelenfeldes und der Tafeln, die grundlegende Informationen bieten. Mit den modernen Mitteln elektronischer Kommunikation eröffnen die aufgedruckten QR-Codes Informationen zur vertieften Befassung mit einzelnen Themen, die über die Grundinformationen hinausführen.
Das vorliegende Buch wiederum bietet als eher traditionell, aber nachhaltig daherkommendes Medium noch weitere Möglichkeiten. In ihm sind Texte zusammengeführt, die teilweise noch gar nicht veröffentlicht oder sonst nur an verschiedenen Orten zu finden sind. Sie können so auch als Unterrichtsmaterialien genutzt werden.
Es gehören aber auch Hinweise auf andere Orte in Sögel dazu, die Spuren der vergangenen jüdischen Kultur wieder sichtbar machen. Da sind vor allem der jüdische Friedhof am Loruper Weg mit seinen überkommenen Grabsteinen und das dortige Ehrenmal zu nennen, das an jene Toten erinnert, die wegen der Shoah nicht wie ihre Vorfahren in heimischer Erde ihre letzte Ruhestätte fanden.
Als Fiebelmann nach Sögel kam – Der erste Jude in Sögel
Aus dem Buch von Holger Lemmermann „Sögel im Spiegel seiner Häuser“ – herausgegeben von der Gemeinde Sögel im Jahr 1983 – stammt der folgende Text: „Als Fiebelmann nach Sögel kam…“. Dieser Beitrag stellt den Beginn einer umfangreichen Materialsammlung gegen das Vergessen dar.
Eine Chronik zu schreiben, ohne auf die Geschichte seiner jüdischen Mitbürger einzugehen, ist schlechterdings unmöglich; war die Synagogengemeinde Sögel doch bis zum Untergang die zweitgrößte des damaligen Regierungsbezirks Osnabrück.
Der erste Jude in Sögel war Jacob Joseph Fiebelmann aus Haselünne, der am 10.03.1767 einen Geleitbrief nach Sögel bekam. Mit der Erlangung eines vom Landesherrn ausgestellten Geleitbriefes, der erst eine Niederlassung an einem bestimmten Ort gestattete, waren für die Juden bestimmte Auflagen verbunden, deren Nichtbefolgung Geldstrafen, im schlimmsten Falle den Entzug des Geleits – und damit die Ausweisung – zur Folge haben konnte. Die wichtigsten Bestimmungen besagten:
- Die Juden dürfen keine Immobilien (Ländereien, Häuser) ohne landesherrliche Erlaubnis besitzen.
- Es ist ihnen untersagt, christliche Dienstboten zu halten oder mit Christen im selben Haus zu wohnen.
- Neben „Handel und Wandel“ ist ihnen lediglich der Metzgerberuf und der damit verbundene Fleischverkauf im Haus sowie der Geldverleih zu vorgeschriebenen Zinssätzen gestattet.
Als Gegenleistung genossen die Juden den Schutz durch den Fürstbischof, vertreten durch die Beamten des Amtes Meppen. In Strafsachen unterstanden sie unmittelbar der fürstlichen Hofkammer in Münster, mit Ausnahme von bestimmten, geringfügigen – insbesondere religiösen – Streitigkeiten, über die das Landesrabbinat Warendorf entschied.
Im Allgemeinen kamen die münsterschen Beamten durchaus ihrer Verpflichtung nach, die auf ihrem Territorium lebenden Juden gegen jedermann zu schützen. Die konnte auch Jacob Joseph Fiebelmann feststellen, als er nach Sögel kam. Es gelang ihm zwar bei Hermann Schoe (Hs. 82) zwei Zimmer zu mieten, doch als er einziehen wollte, versuchte sein Hauswirt, ohne Angabe von Gründen seiner Zusage zu entziehen. Es bedurfte eines Machtwortes von Rentmeister Lipper, um Fiebelmann zu seinem Recht zu verhelfen.
In welch großer existenzbedrohender Unsicherheit die jüdische Minderheit in jenes Zeit leben mußte, zeigt die Geschichte der drei Söhne von Jacob Joseph Fiebelmann, Aron, Joseph und Salomon.
Aron als der älteste der Brüder, hatte das Geleit seines verstorbenen Vaters geerbt. Aus irgendwelchen Gründen, die uns nicht bekannt sind, verkaufte er dieses Geleit an seine Schwester Adel, deren aus Hessen stammende Ehemann, Meyer Levi, somit ein Anrecht erhielt, sich in Sögel niederzulassen.
Dies hatte zur Folge, daß nicht nur die beiden jüngeren Brüder, Joseph und Salomon, sondern auch Aron ein unstetes Wanderleben ohne Domizilrecht in irgendeinem Ort begannen. Aron lebte jahrelang im nahe der Grenze zum Amt gelegenen oldenburgischen Ort Lindern, wo er am 6.8.1805 ausgewiesen wurde, „da es nicht gerahten gefunden wird, die Anzahl der vergleideten Juden im hiesigen Herzogthum zu vermehren. Anscheinend verfügte Aron nicht einmal mehr über die 25 Rthl., die im Oldenburgischn nötig waren, um als Reisender zugelassen zu werden.
Zudem war er „Ausländer“ und genoß somit nicht die Minimalrechte, die selbst einem unvergleideten „inländischen“ Juden zustanden. Von Lindern begab sich Aron nach Holland, wo er sich um 1800 in Oude Pekela verheiratete. Nach einem kurzem Zwischenspiel in Cloppenburg – mit oder ohne Erlaubnis der oldenburgischen Behörden – gelang es ihm endlich am 11.10.1805, ein Geleit auf Lebenszeit für seinen Geburtsort Sögel zu erhalten.
Seine beiden Brüder Joseph und Salomon trafen es nicht besser. Auch sie hatten nicht in Sögel bleiben dürfen und hatten es geschafft, in den Gerichten Friesoythe und Saterlandd die Lumpensammlung zu pachten. Als das Amt Meppen dem Herzog von Arenberg übereignet wurde, glaubten sie eine Chance zu haben, in einem Ort ihrer angestammten Heimat niederlassen zu dürfen: Sie bewarben sich 1806 nach Werlte und Dörpen.
Beide Orte lehnten ab. Es bedurfte der Intervention des Leiters der arenbergischen Gesamtverwaltung, Franz Theodor von Olfers, um den Brüdern ein Geleit auf Lebenszeit nach Lathen zu verschaffen. Als sie 1809 einen Antrag stellten, zwei Töchter des Sögeler Juden Moses Samuel zu heiraten, hatten sich die politischen Verhältnisse soweit geändert, daß man ihnen kurz darauf gestattete, sich in ihrem Geburtsort Sögel niederzulassen.
Zur Synagoge in Sögel
von Heiner Schüpp – Vortrag gehalten am 9. November 2008 in Sögel aus Anlass von 70 Jahre „Reichskristallnacht“
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Am Anfang war Napoleon“, so könnte ich mein Thema mit Thomas Nipperdeys Deutscher Geschichte des 19. Jahrhunderts einleiten. Denn mit der Einführung des französischen bürgerlichen Gesetzbuches, dem Code Civil, zum 1. Februar 1809 im Amt Meppen, dass im Zuge der Auflösung des Fürstbistums Münster seit 1803 von den Herzögen von Arenberg regiert wurde, änderten sich auch die Rechte der Juden im Herzogtum.
Hatte bis dahin die münstersche Judenordnung gegolten, die erstmals von Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen am 29. April 1662 erlassen worden war und im Laufe der Zeit verschiedene Fortschreibungen erfuhr, die es den Juden unter anderem verbot, Synagogen zu bauen, so kannte der Code Civil keine Unterschiede mehr in der Behandlung der Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften.
Eine wirkliche Gleichstellung gab es trotzdem nicht, wie viele Beispiel aus der Lebenswirklichkeit der Juden im Emsland zeigen. Die bessere Rechtsstellung bewirkte dennoch, dass die Zahl der im Amt Meppen lebenden Juden in dieser Zeit anstieg.
So lebten 1816 in Sögel 26 Juden, 1844 waren es fast doppelt so viele, nämlich 47. Dies wirkte sich langfristig auch auf das religiöse Leben aus, schließlich musste die Gemeinde wenigstens zehn volljährige – nach dem Talmud mindestens 13 Jahre alte – Männer umfassen, um einen gültigen Gottesdienst feiern zu können.
Mit der steigenden Zahl von Juden wuchs selbstverständlich auch deren Wunsch, ihren Gottesdienst in einem angemessenen Raum feiern zu können. Schon 1824 hatte man den Antrag auf Bau einer Synagoge gestellt, um aus dem Provisorium, dem etwa seit der Jahrhundertwende als Bethaus genutzten ehemaligen Hundezwinger des Jagdschlosses Clemenswerth herauszukommen.
Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Das Haus war ein gewöhnliches Wohnhaus und dürfte in etwa so ausgesehen haben, wie auf einem Photo in Holger Lemmermanns Buch über Sögel im Spiegel seiner Häuser zu sehen ist und hat nichts mit einem Hundezwinger zu tun, wie er vielleicht heute gebräuchlich ist.
Warum hatte der Bau einer Synagoge für die jüdische Gemeinschaft in Sögel einen so hohen Stellenwert? Das Judentum kennt zwei kultische Institutionen, in denen sich das religiöse Leben abspielte: den Tempel und die Synagoge. Der Tempel in Jerusalem war das höchste Heiligtum. Als Opferstätte symbolisierte er die unmittelbare Verbindung des Volkes Israel mit seinem Gott Jahwe, wie sie im Alten Testament durch den Bundesschluss zwischen Jahwe und Abraham beschrieben ist.
Der Kult des Tempels war ein Opferkult, der von der Priesterschaft durchgeführt wurde. Mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer unter Titus im Jahre 70 n. Chr. endete diese kultische Tradition. An die Stelle des Tempels trat in vielerlei Hinsicht die Synagoge. Im Griechischen bedeutet dass „Versammlungsstätte“.
Sie diente dem Gebet und der Lehre, hier versammelte sich die Gemeinde, zuweilen wurden sogar Gerichtssitzungen abgehalten. Im Gegensatz zum Tempel hatte die Synagoge nichts mit dem Opferkult zu tun und besaß folglich auch keinen Altar.
Der Kult der Synagoge ist ein reiner Wortgottesdienst, in dessen Mittelpunkt die Lesung der Tora, den fünf Büchern Mose, steht, umrahmt von Gebeten und Gesängen. Die Babylonische Gefangenschaft Israels, als das Volk also fern von Tempel und Heimat im Exil lebte, verankerte die religiösen Gebetsversammlungen endgültig in seinem Gemeinschaftsbewusstsein.
So behielt man den Gottesdienst auch nach der Rückkehr nach Israel bei. Mit der Zerstörung des Tempels verlor Israel seine religiöse Mitte. Die Synagogen übernahmen teilweise die Aufgaben dieses Heiligtums und „retteten“ so das Judentum.
1824 scheiterte der Antrag der Sögeler Juden auf Bau einer Synagoge noch mit der Begründung, dass die Juden auf die ausstehende Regelung der bürgerlichen Rechtsverhältnisse warten mussten. Sie werden mich vielleicht nach dem Warum fragen, weil doch mit dem Code Civil eigentlich alles geregelt war.
Nun, wie bekannt, war die französische Herrschaft nur von kurzer Dauer, und als Ergebnis des Wiener Kongresses von 1815 wurde das Herzogtum Arenberg dem zum Königreich erhobenen Hannover zugeschlagen.
Die liberale Judengesetzgebung wurde von der Regierung König Georgs III. zwar kassiert, trotzdem konnte man hinter bestimmte Entwicklungen nicht zurückfallen. Seit den 1830er Jahren wurden auch im Königreich Hannover neue Gesetze über die Rechtsverhältnisse der Juden vorbereitet.
Die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft, gegründet auf aufklärerischem Gedankengut, gewann wachsenden Einfluss vor allem auf die Vorstellungen von der Stellung der Staatsangehörigen.
Davon wurden sogar die Juden erreicht, zumal sie sich immer energischer durch Eingaben selbst darum bemühten, ihre Rechtsstellung zu verbessern, um der nichtjüdischen Bevölkerung gleichgestellt zu werden. Die Parolen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – trugen, wenn auch mit Verzögerung, ihre Früchte.
Schon bevor schließlich mit dem Gesetz vom 30. September 1842 die sogenannte „Judenemanzipation“ eingeleitet und das Schutzjudentum aufgehoben sowie die Abgabenzahlung unter Gesetzesvorbehalt gestellt wurden, wollte die gewachsene jüdische Gemeinschaft in Sögel 1837 aus der Konkursmasse von Ludwig Kösters ein Grundstück mit aufstehendem Wohnhaus und Garten kaufen.
Dies ist deshalb so bemerkenswert, weil es Juden bis dahin untersagt war, Haus und Grund zu erwerben.
Der standesherrlich arenbergische Amtmann Russell und der katholische Pfarrer Pohlmann protestierten gegen den Kauf und die Errichtung eines jüdischen Gotteshauses.
Für den Amtmann war der „eigentümliche Besitz“ von Grundstücken und Immobilien „eine bedenkliche Sache“ und für ihn lag „etwas unverkennbar Widerwärtiges darin, überall Schacherfamilien in der Gemeinde sich immer mehr ausbreiten und zur äußern, größern Selbständigkeit gelangen zu sehen.“ (Zitiert nach Holger Lemmermann, Geschichte der Juden im Alten Amt Meppen bis zur Emanzipation 1848).
Dennoch erteilte die Landdrostei in Osnabrück am 30. November 1838 die Kauferlaubnis, allerdings noch mit dem Hinweis verbunden, keine weiteren Rechte, wie z. B. die Anerkennung als Synagogengemeinde, daraus abzuleiten. In diese weise Entscheidung flossen schon die erwarteten Änderungen des Landesverfassungsgesetzes ein, dass schließlich am 5. September 1848 verkündet wurde.
Im § 6 wurde die völlige Gleichstellung der Juden bestimmt: „Jeder Landeseinwohner genießt völlige Glaubens- und Gewissensfreiheit und ist zu Religionsausübungen mit den Seinigen in seinem Hause berechtigt. Die Ausübung der politischen und bürgerlichen Rechte ist von dem Glaubensbekenntnis unabhängig.“
Was die Bildung einer Synagogengemeinde betraf, war die Landdrostei 1838 mit ihrem entsprechenden Hinweis nicht so weitsichtig. Nach Vorschrift des bereits genannten Gesetzes von 1842 sollte jeder Jude des Königreichs Mitglied einer Synagogengemeinde und eines Armenverbandes sein. Infolgedessen entstanden insgesamt zwölf Synagogengemeinden im Landdrosteibezirk Osnabrück.
Im Emsland wurden 1844 mehrere benachbarte Gemeinden zu größeren Synagogengemeinden zusammengeschlossen. Das waren Freren mit Lengerich, Thuine, Lingen und Fürstenau; Haren mit Rütenbrock; Sögel, dem man Lathen angliederte; Haselünne mit Holte und Bakerde sowie Aschendorf, das zusammen mit Heede und Papenburg eine Synagogengemeinde bildete.
Nur Meppen blieb selbständig. Dass dieser Zusammenschluss auch Konfliktstoff in sich bergen konnte, zeigte einige Jahre später die Auseinandersetzungen um die Abspaltung Lathens von Sögel oder Lingens von Freren.
Zurück zum Synagogenbau in Sögel. Als die jüdische Gemeinde das 1838 erworbene Wohnhaus abbrechen ließ, um als Neubau eine Synagoge zu errichten, verweigerte der Amtmann Russell am 20. Mai 1839 erneut die Baugenehmigung, ohne im übrigen die Landdrostei einzuschalten. Darüber hinaus wandte sich sein Mitstreiter Pastor Pohlmann an den Osnabrücker Generalvikar, den Weihbischof Carl Anton Lüpke, der in diesen Jahren vor allem die Wiedereinrichtung des Bistums Osnabrück betrieb.
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Pohlmann schrieb am 9. September 1839:
„Die Juden dahier, aus 8 Familien bestehend, haben voriges Jahr… ein Haus ankaufen lassen, welches in der Mitte des Dorfes Sögel belegen, von dem Pfarrhause und der Kirche höchstens 100 bis 150 Schritte entfernt ist.
Wie dieser Ankauf und dann auch die Absicht der Juden, in dem Hause eine Synagoge einrichten zu wollen, bekannt werden, hat das Standesherrliche Herzogliche Amt solches zu verhindern gesucht, und sich deshalb an die Königliche Landdrostei in Osnabrück verwandt.
Die Juden haben aber die Sache gewonnen, und zwar, wie man sagt, durch Vermittlung des Oberrabbiners zu Hannover. Sie wollen nun sogar einen hohen Tempel, mit großen, runden Fenstern, erbauen.
Das angekaufte Haus haben sie schon größtenteils abgebrochen, daß nun die Erbauung eines solchen jüdischen Tempels, so nahe bei der Pastorat und Kirche, und der hier sonst nirgends, weder in Meppen noch in Haselünne, so vorgefunden wird, recht ungern von dem christlichen Volke gesehen und allgemein gewünscht wird, daß er abgeändert oder gar verhindert werde, läßt sich wohl leicht vermuten, und habe ich sehr oft vernommen.
Darum finde ich mich zu meiner Beruhigung genötigt, diese Angelegenheit Euer bisch. Hochw. zu einer gnädigen Beurteilung untertänigst vorzutragen, ob Hochdieselben es vielleicht für geziemend und nützlich halten, durch gnädige Fürsprache es bei Königl. Regierung dahin zu bringen: daß die Juden zu Sögel den Bau einer neuen Synagoge, wenn er nicht mehr verhindert werden kann, so einrichten müßten, daß äußerlich die Form eines Wohnhauses beibehalten, und das Betzimmer nicht an der Straße, sondern an der entgegengesetzten Seite im Hause angebracht werde.“
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Pohlmann versuchte mit dieser Eingabe, noch verspätet Einfluss auf den Bau zu nehmen, denn die Landdrostei in Osnabrück hatte bereits am 24. Juni 1839 die Baupläne genehmigt und das Amt Hümmling angewiesen, den Bau der Synagoge nicht weiter zu behindern.
Nicht zuletzt die Unterstützung des Sögeler Vorhabens durch den in Hannover sitzenden Landrabbiner Dr. Adler dürfte die Landdrostei zu diesem Schritt bewegt haben, hatte doch besagter Dr. Adler am 11. Juni 1839 die Landdrostei darauf hingewiesen, (ich zitiere nach Holger Lemmermann) „dass es nun einmal in der Natur der Sache liege, dass Synagogen von außen als solche zu erkennen wären. Fast alle Synagogen im Landrabbinatsbezirk hätten das Aussehen von Gotteshäusern.“
Schaut man sich die Baupläne an, denn nur diese sind überliefert und es gibt leider keine Photographie des fertigen Gebäudes, so ist die zitierte Beschreibung von Pastor Pohlmann wohl übertrieben. Von großen runden Fenstern oder gar einem Tempelbau kann keine Rede sein.
Vielmehr waren auf drei Seiten des einfachen Klinkerbaus eher schmale, rundbogige Fenster vorgesehen. Der äußere Bauschmuck bestand wohl auch nur aus einem gemauerten Fries an der Giebelseite über dem Eingang. Einen Eindruck wie der Bau stilmäßig ausgesehen haben könnte, vermitteln die Bilder der Synagogen in Haren und Lathen, die allerdings später als die in Sögel errichtet wurden.
Das ganze Unbehagen am Bau der Synagoge wird in der zitierten Stellungnahme von Pohlmann deutlich. Es werden Vorbehalte gegen die Juden und ihre Gotteshäuser bedient, die sich aus jahrhundertealtem christlichen Antijudaismus speisten.
Das Fremdartige wollte man nicht in seinem Ort und noch dazu in der Nähe der Kirche sehen.
Die geistige Enge der damaligen Zeit gerade auf dem Lande trug ein Übriges zur Ablehnung bei. Die Juden waren noch lange nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen, auch wenn sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen deutlich verbessert hatten.
Die schwierige finanzielle Situation der jüdischen Gemeinde in Sögel erlaubte es ihr auch gar nicht, einen besonders repräsentativen Bau zu errichten. Die Zinsen für die 950 RT betragende Hypothek, belasteten die Gemeinde jedenfalls noch sehr lange und schränkten ihre finanziellen Spielräume so ein, dass sie sich kaum einen geeigneten Lehrer leisten konnte, der ein Grundgehalt von 200 RT im Jahr erhielt.
Der Unterhalt der Synagoge kostete ebenfalls. Fast schon dramatisch verschärfte sich die Situation schon kurz nach Erteilung der Baugenehmigung. 1840 wurde ein großer Teil des Sudendes in Sögel durch einen großen Brand zerstört. Auch die im Bau befindliche Synagoge wurde davon in Mitleidenschaft gezogen.
Das alte Bethaus, der schon erwähnte Hundezwinger, in dem sich drei wertvolle Torarollen befanden, wurde völlig zerstört. Obwohl der jüdischen Gemeinde in Sögel die Durchführung einer Brandkollekte nicht gestattet wurde, gelang es ihr, den Synagogenbau einschließlich eines rituellen Bades, einer Mikwe, fertigzustellen.
100 Jahre lang bildete die Synagoge den religiösen und kulturellen Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde in Sögel. Die Nationalsozialisten zielten somit am 9. und 10. November 1938 mit der Zerstörung der Synagogen auf das „Herz“ der deutschen Juden. Die Synagogen mussten aus ideologischen Gründen brennen. Das Feuerritual hatte man schon bei der öffentlichen Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 benutzt.
Der Novemberpogrom von 1938 war eben kein „spontaner Volksaufstand“ wie Goebbels und seine Propagandaknechte behaupteten, sondern wie wir wissen, von Hitler selbst geplant und angeordnet. Es gab reichsweit erstellte Listen von jüdischen Einrichtungen, so dass die örtlichen NS-Funktionäre auch im Emsland genau wussten, wo sie in der Nacht zum 10. November 1938 anzugreifen hatten.
Man wartete förmlich nur auf einen Anlass, um, wie Goebbels es ausdrückte „den Volkszorn loslassen zu können.“ Diesen Anlass lieferte dann das Attentat des 17-jährigen jüdischen Emigranten Herschel Grynszpan aus Hannover am Morgen des 7. November 1938 auf den deutschen Legationsrat Ernst vom Rath in Paris.
Am Nachmittag des 9. November wurde der NS-Führung der Tod vom Raths bekannt und man ergriff im Laufe des Abends die Chance zu handeln, zumal die oberste Führung in München zur jährlichen NSDAP-Versammlung zur Erinnerung an den Hitlerputsch von 1923 versammelt war.
So stellte auch der Meppener Standartenführer aus den SA-Stürmen in seinem Bereich ein etwa 20-köpfiges Rollkommando zusammen. Auf einem LKW fuhr man zunächst nach Lathen und zündete dort die Synagoge an, die vollständig niederbrannte. Von Lathen fuhr das SA-Kommando weiter nach Sögel. Auch hier wurde die Synagoge angezündet und brannte nieder.
Als der Brand auf benachbarte Häuser überzugreifen drohte, wurde dies mit einer von der Feuerwehr aus Werlte angeforderten Motorspritze verhindert. An der Synagogenruine brachten die Brandstifter ein Schild mit folgendem Text an:
„Rache für Mordsache vom Rath. Tod dem Internationalen Judentum!“
Der „Telegrammstil“ weist auf die zentrale Befehlsgebungskette hin, die von München aus die Kreis- und Ortsgruppenleiter und weitere NS-Untergliederungen erreicht hatte. Im Laufe des Morgens traf eine Reihe weiterer Befehle ein, deren vermeintlich beschwichtigender Inhalt in der Rückschau nur als „scheinheilig“ zu bewerten ist:
- Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens und Eigentums mit sich bringen (z.B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung vorhanden ist).
- Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnungen zu überwachen und Plünderer festzunehmen.
- In Geschäftsstraßen ist besonders darauf zu achten, dass nicht-jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden.
- Ausländische Staatsangehörige dürfen, auch wenn sie Juden sind, nicht belästigt werden.
Trotzdem wurden die Geschäfte jüdischer Eigentümer aufgebrochen, teilweise ausgeplündert, angezündet und das Inventar zerstört. Am Ende lagen die Synagogen und Beträume in Papenburg, Lathen, Sögel, Werlte, Meppen, Haren, Lingen und Freren in Trümmern.
Die Ausschreitungen des Novemberpogroms waren Gegenstand eines Prozesses, der 1949 vor dem Schwurgericht in Osnabrück geführt wurde. Der für die Organisation des Pogroms in Meppen, Haren, Sögel, Lathen und Werlte verantwortliche SA-Standartenführer, der ehemalige Kreispropagandaleiter und ein SA-Truppführer erhielten Haftstrafen von zweieinhalb Jahren.
Fünf der Hauptangeklagten erreichten im Revisionsverfahren 1952 eine Annullierung ihrer Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine Herabsetzung ihrer Haftstrafen.
Die Zerstörung der Synagogen 1938 war nach dem Boykottaufruf vom 1. April 1933 der sichtbare Auftakt zur Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten.
Es gingen eben nicht nur Glasscheiben zu Bruch und die Gebetsstätten der Juden brannten, sondern überall – also auch im Emsland – wurde ein bedeutendes Stück des jüdischen Kulturerbes und damit deutsche Kultur unwiederbringlich zerstört.
Die weitere Geschichte der Sögeler Juden wird in aller Kürze durch folgende Daten skizziert:
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1826
5 Familien (= 26 Personen)
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1828
Annahme fester Familiennamen: Joseph Jacobs Fiebelmann und Geschwister nennen sich in Zukunft „Jacobs“, Jacob Aron Fiebelmann nennt sich „Hochheimer“, Jacob Meyer und Geschwister behalten ihren Namen, Kaufmann Weinberg behält seinen Namen, Koppel Moses und Geschwister nehmen den Namen „Frank“ an, Levi Lazarus nimmt den Namen „Haas“ an.
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1839
Bau einer Synagoge am Pohlkamp
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1842
7 Familien ( = 49 Personen)
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1844
Bildung einer Synagogengemeinschaft Sögel/Lathen
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1848
Bürgerliche Gleichstellung der Juden im Königreich Hannover
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1875
63 jüdische Einwohner
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1881
Stimmberechtigte Mitglieder der Synagogen- und Schulgemeinde aus Sögel: Kaufmann Weinberg, Isaak Jacobs, Jacob Meyer, Jacob Jacobs, Aron Jacobs, Aron Hochheimer, Gumfert Frank, Meier L. Meier, Joseph Grünberg
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1914-
1918Es fielen im Krieg (Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof): Hartwig Meyer, Sammy Jacobs, Louis Grünberg, Karl Weinberg
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1929
Die Synagogengemeinde Sögel/Lathen/Werlte zählt 32 Familien mit 160 Seelen; davon leben in Sögel 17 Familien (= 80 Personen)
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1941-
1942Deportation der jüdischen Bevölkerung Sögels in verschiedene Konzentrationslager. Fast alle kommen ums Leben.
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1981
Errichtung einer Gedenktafel zu Ehren der ermordeten jüdischen Mitbürger.