Die Biografie der Erna de Vries
Erna de Vries wurde am 21. Oktober 1923 in Kaiserslautern als Erna Korn geboren. Sie wuchs in einem Land auf, in dem jüdische Familien zwar in manchen Bereichen und durch manche Menschen Zurückweisung verspürten und benachteiligt wurden, das ihnen aber volle Bürgerrechte gewährte und theoretisch jeden Berufsweg offenhielt.
Erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 und der ihr folgenden schrittweisen Entrechtung der jüdischen Deutschen – die in den Nürnberger Gesetzen von 1935 einen vorläufigen Höhepunkt erreichten – änderte sich der Alltag der Deutschen jüdischen Glaubens grundlegend und schmerzhaft.
Eine junges Mädchen wie Erna de Vries erlitt nun erste Ausgrenzungen im Bekanntenkreis, die staatlich gewollt waren, selbstverständliche Aktivitäten wie unbeschwerte Tanzabende und ein angemessener Schulbesuch wurden jüdischen Kindern und Jugendlichen verwehrt.
Mitgliedschaften in Vereinen und eine den eigenen Fähigkeiten angemessene Ausbildung wurden unmöglich, Lebensträume zunichte gemacht, ganz zu schweigen von den Berufsverboten und Bewegungsbeschränkungen, die erwachsenen Juden die Erwerbsarbeit beinahe unmöglich machte und in die wirtschaftliche und soziale Isolation führten.
Während der Novemberpogrome 1938, der sogenannten Reichspogromnacht, ließ das Nazi-Regime alle Hemmungen fallen und begann mit der offensiven Zerschlagung des jüdischen Lebens, indem Menschen verhaftet und ermordet, Synagogen angezündet und abgerissen, Betriebe enteignet oder geschlossen wurden. Erna de Vries und ihre Mutter Jeanette erlebten dies am eignen Leibe: Ihre Wohnung wurde von einem antisemitischen Mob zerstört und unter Wasser gesetzt, ein Wiederkommen sollte unmöglich gemacht werden.
Nur selten erfuhren sie Solidarität, so von einer mitmenschlichen Nachbarin, die ihnen bei der Wiederkehr mit Nahrung half. Erna de Vries, zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt, musste ihren Wunsch, Ärztin zu werden, aufgeben und begann stattdessen eine Ausbildung zur Krankenschwester in einem jüdischen Krankenhaus.
Drei Jahre später, nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juli 1941, begann die deutsche Regierung in Osteuropa eine Vernichtungsmaschinerie zu errichten, die mit Auschwitz, Sobibor und Treblinka einen historisch singulären zivilisatorischen Abgrund bedeutete. Erna de Vries erlebte und erlitt die Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums in allen Phasen am eigenen Leibe mit.
Sie geriet – weil sie als junge Frau ihre Mutter auf der den Tod bedeutenden Deportation nach Auschwitz begleiten wollte – in diese Maschinerie, wo sie um ein Haar grausam ermordet worden wäre, so wie es ihre Mutter Jeanette Korn, geb. Löwenstein dort erleiden musste.
Nur wegen der menschenverachtenden Rassenlogik der Nazis, die Menschen wie Erna de Vries als Kind einer jüdisch-protestantischen Ehe als sogenannte „Halbjüdin“ deklarierte, wurde Erna de Vries wenige Minuten vor der sicheren Vergasung aus der Gruppe der zum Transport in die Gaskammer bestimmten Frauen herausgenommen und in das KZ Ravensbrück deportiert.
Kurz bevor der 2. Weltkrieg sein Ende fand, wurden die Überlebenden vieler KZs von den Lagerführungen auf Todesmärsche geschickt, um Spuren zu verwischen und letzte, oft ungestrafte Morde zu begehen. Erna de Vries überlebte durch die Unterstützung gutherziger Menschen ihres Umfeldes, so wie sie zuvor auch andernorts uneigennützige Hilfe erfuhr, dieses letzte Verbrechen an ihr und der Menschlichkeit.
Nach der Stunde Null konnte sie neue Kräfte entwickeln, die es der jungen Frau ermöglichten, nach vorne zu schauen. Nachdem sie in ihrem Familienkreis in Köln ihren späteren Ehemann Josef de Vries, der ebenfalls das KZ Auschwitz überlebt, aber seine erste Familie im Holocaust verloren hatte, kennenlernte, zogen die beiden als Ehepaar in den Heimatort Josefs, nach Lathen.
In Lathen gründete das Ehepaar de Vries eine Familie mit den Kindern, Karl, Lea und Ruth. Erst in den 90er Jahren begann Frau de Vries öffentlich über ihre Erlebnisse während der NS-Zeit zu sprechen. Ab 2005 entstand das Buch „Der Auftrag meiner Mutter“. Bis kurz vor ihrem Tod am 24.10.2021 trat Frau de Vries in vielen Schule und Bildungseinrichtungen auf, um über ihr Schicksal zu berichten.
Die Grund- und Oberschule in Lathen trägt seit dem 22.06.2018 den Namen von Frau de Vries als ERNA-DE-VRIES – Schule. Im Jahr 2023 organisierte die Schule mit der Samtgemeinde Lathen und den zwei weiteren Erna de Vries Schulen aus Münster und Ibbenbüren eine Gedenkfahrt zum 100 Geburtstag von Frau de Vries unter dem Motto „Erinnerung wachhalten!“. An ihrem Geburtstag, am 21.10.23 besuchte die Gruppe Auschwitz Birkenau und den in ihrem Buch beschriebenen Todesblock 25.