Überlebende des Holocaust auf dem Hümmling
Informationen durch Gespräche mit Margarethe Ahrens, Lea Mor, Heiner Wellenbrock und Karl de Haas
Von den ca. 91 Mitgliedern der jüdischen Gemeinden, die vor den Deportationen auf dem Hümmling wohnten, überlebten nur acht jüdische Bürger die Vernichtungs- oder Konzentrationslager und den Holocaust. Diese Überlebenden kannten sich untereinander zum größten Teil sehr gut. Ihre Namen waren Josef de Vries, Louis Grünberg, Georg Frank und die vier Brüder der Familie de Haas, Adolf, Arthur, Karl und David de Haas.
Laut Überlieferungen von Louis Grünberg, einem bekannten jüdischen Überlebenden, überstanden sie den Holocaust nur durch die Motivation und Kraft derer, die man während der vielzähligen Stationen der Deportation immer wieder antraf.
Die jüdischen Rückkehrer nach Werlte
Von den 55 jüdischen Mitbürgern aus den sieben Familien, die vor der Zeit des Holocaust in Werlte lebten, kehrten nur Adolf und David de Haas wieder nach Werlte zurück.
Adolf de Haas
Adolf de Haas wurde in Theresienstadt befreit und kehrte nach Werlte zurück. Er heiratete 1949 in Werlte die evangelische Christin Paula Heißenberg aus Achtermeer. Adolf starb 1978. Sie hatten zwei Kinder, Siegfried, 1951 geboren und Inge, 1958 geboren. Siegfried starb bereits 1995. Seine Frau zog danach mit ihrem kleinen Sohn zurück zu ihrer Mutter. Paula ist bei ihrem Ehemann in Sögel beigesetzt.
Das Haus wurde 1995 nach Siegfrieds Tod zunächst von der Volksbank gekauft. 2007 kauften Ingo und Claudia Lübs das Haus.
David de Haas
David de Haas kehrte im November 1945 nach Werlte zurück und arbeitete als Viehhändler. 1947 heiratete er Liesel Marx und emigrierte 1950 mit seiner Frau und dem 1949 geborenen Sohn Siegfried in die USA.
Der jüdische Rückkehrer nach Lathen und seine zweite Frau – Josef de Vries
Er war ein Viehhändler in Lathen. 1939 wurde er denunziert und war bis 1945 Häftling in den Konzentrationslagern Neuengamme, Sachsenhausen und Auschwitz-Birkenau. Seine Frau und sein Kind starben nach der Deportation 1941. Erna de Vries, geborene Korn, wurde in Kaiserslautern geboren. Ihre Mutter war Jüdin, ihr Vater evangelischer Christ. Als ihre Mutter im Juli 1943 deportiert wurde, begleitete sie ihre Mutter ins KZ Ausschwitz-Birkenau.
Dort arbeiteten sie unter katastrophalen Bedingungen im Außenlager Harmense in der Fischzucht. Da Erna unter Phlegmone (eitrige Wunden an den Beinen) litt, wurde sie deswegen am 15. September 1943 in den Todesblock 25 verlegt. Erna de Vries erzählte: „Ich hatte einen Wunsch, ich wollte die Sonne noch mal sehen. Ich habe gedacht, wenn ich die Sonne sehe, dann kann mir doch nichts passieren. Und ich habe die Sonne gesehen.“
Sie wurde kurz vor ihrer Vergasung noch von einem SS-Mann aus dem Block geholt, der sie in das KZ Ravensbrück bringen sollte. Ihre Mutter wurde am 8. November 1943 ermordet. Erna Korn arbeitete im KZ Ravensbrück und dem zugehörigen Siemens-Lager Ravensbrück bis zu dessen Schließung am 15. April 1945. Als sich dort die Rote Armee näherte, wurde das Lager geräumt. Ab April 1945 traten die Insassen dieses Lagers den Todesmarsch bis Mecklenburg an, wo sie dann in der Nähe von Banzkow von alliierten Soldaten befreit wurden.
Erna und zwei Freundinnen hielten sich zunächst mit Betteln über Wasser und wurden schließlich von einer Bauernfamilie aufgenommen, bei der sie einige Zeit leben konnten. Dann kehrte Erna Korn nach Köln zurück. Hier lernte sie Josef de Vries kennen. Beide hatten die Lager überlebt, aber ihre gesamten Familien in den Internierungslagern verloren. Sie heirateten 1947 und zogen nach in seinen Heimatort Lathen, wo Erna de Vries auch nach dem Tod ihres Mannes wohnen blieb. Die Familie hatte drei Kinder.
Jüdische Rückkehrer nach Sögel
Von den annähernd 90 jüdischen Mitbürgern, die in Sögel gewohnt hatten, kamen drei jüdische Mitbürger nach dem Krieg dorthin zurück: Arthur de Haas, Georg Frank und der bereits erwähnte Louis Grünberg.
Arthur de Haas
Auch Arthur de Haas hatte seine erste Frau und das gemeinsame Kind in den Lagern verloren. Er kam zusammen mit einem seiner vier Brüder, Adolf de Haas, aus den Internierungslagern (s. Adolf de Haas) zurück auf den Hümmling, konnte aber sein Elternhaus nach der Rückkehr nicht mehr bewohnen, da es von den Behörden während seiner Internierung verkauft worden war.
So zog er in das Haus seiner früheren Schwiegereltern, der Familie Viktor Frank. Aus Angst vor einer Wiederkehr des Nationalsozialismus heiratete Arthur de Haas jedoch keine jüdische, sondern eine katholische Frau und bestand darauf, dass die drei Kinder katholisch erzogen wurden.
Nach Erzählungen seines Sohnes legte der Vater (geb. 1903) nach der Rückkehr keinen großen Wert mehr auf ein großes Einkommen (so wie es der jüngere Louis Grünberg, geb.1922, tat). Er führte zwar seinen Viehhandel weiter fort, tätigte aber nur noch zwei bis drei Geschäfte pro Woche. Er verstarb bereits 1973 und war der erste Jude, der nach dem Krieg auf dem Jüdischen Friedhof Sögel beigesetzt wurde.
Georg Frank
Über die Rückkehr von Georg Frank gibt es keine genaueren Informationen, jedoch blieb er – wie sein Neffe Karl de Haas erzählt – nur kurz in Sögel um zu schauen, ob noch weitere Angehörige der Familie Frank den Holocaust überlebt hätten. Da dies nicht der Fall war, wanderte er recht bald nach Frankreich aus. In späteren Jahren besuchte er – nun ein wohlhabender Geschäftsmann in Straßburg/Elsaß – die alten Freunde Arthur de Haas und Louis Grünberg in Sögel.
Georg Frank war nicht der einzige Überlebende auf dem Hümmling, der nach seiner Rückkehr ausgewandert ist. Auch die Brüder Karl und David de Haas emigrierten. Ihre Wege führten sie in die USA. Durch Karl de Haas erfuhren wir, dass beide sich in den USA ein gutes und sorgenfreies Leben, abseits von Antisemitismus und Angst, versprachen. Doch leider sei ihnen beiden auch dort Abweisung und Ausgrenzung begegnet.
Louis Grünberg
Louis Grünberg wurde wie fast alle jüdischen Mitbürger des Hümmlings mit dem „Bielefelder Transport“ 1941 ins Ghetto Riga deportiert. Nach einem halbjährigen Aufenthalt mit seinem Bruder im Vernichtungslager Salaspils kehrte er wieder in das Ghetto Riga zurück. Nach dessen Auflösung deportierte man Louis Grünberg in das KZ Kaiserwald. Seine Eltern und Geschwister kamen in das KZ Stutthof bei Danzig, dorthin wurde Louis später ebenfalls deportiert. Leider erlebten seine Eltern und Geschwister dieses aber nicht mehr.
Erst im Lager Burggraben konnten er und die restlichen lebenden Insassen von der Roten Armee gerettet werden. Nach einem sechswöchigen Krankenhausaufenthalt gelangte Louis Grünberg gemeinsam mit einem der vier überlebenden Brüder der Familie de Haas, David de Haas, über Lodz nach Berlin. Nach seiner Rückkehr nach Sögel führte er sein Viehhandelsgeschäft sehr erfolgreich weiter.
Zusammen mit dem Viehhändler Rolfes gründete er den noch heute bestehenden Schlachthof in Sögel. Dieser Schlachthof wurde später vom Unternehmen Weidemark übernommen. Louis Grünberg war einer der wenigen jüdischen Überlebenden, der sich nach seiner Rückkehr bis zu seinem Tod im Jahre 2004 noch öffentlich betätigte. Wenn er darum gebeten wurde, sprach er in Schulen über seine Erlebnisse im Holocaust und hielt Reden auf Gedenkfeiern. Er war ein geachteter Bürger in Sögel.
Spuren des Holocaust – Das Leben der Überlebenden/mit den Überlebenden
Die jüdischen Rückkehrer hatten ihr Leben lang mit den Ereignissen während des Nationalsozialismus zu kämpfen. Stark war z. B. die Erinnerung an den permanenten Hunger. So berichtete uns Karl de Haas, dass sein Vater immer stark darauf bedacht war, genügend Essensvorräte zu haben, denn er war mit einem Körpergewicht von gerade einmal 40 Kilogramm zurückgekehrt.
Luxusartikel wie Fernseher hingegen seien für Arthur de Haas unbedeutend gewesen. Der kleine Karl de Haas musste jeden Abend mit seinem Vater zu dem öffentlichen Kühlhaus des Dorfes gehen, „um nach dem Rechten zu sehen“. Arthur de Haas hatte dort nämlich gleich mehrere Kühlfächer gemietet, denn er war stets besorgt, ob seine Familie auch genügend zu essen habe.
„Mein Vater schnitt mir immer Brotscheiben, die mehrere Zentimeter dick waren. Diese legte er dann aufeinander. Das war mein Pausenbrot in der Schule. Mir war dies vor meinen Freunden peinlich, da ich dieses viel zu dicke Butterbrot gar nicht in den Mund bekam.“ Und auch Lea Mor berichtete, dass ihre Mutter bis heute nicht einmal einen Kanten hartes Brot wegwerfen könne. Auch das Zusammenleben in den Dörfern, in denen die ehemaligen Nazis immer noch lebten, war nicht leicht für die Rückkehrer.
Wenn Arthur de Haas als Viehhändler Bestellungen über das Telefon annehmen wollte, dann reichte er, wenn er am anderen Ende der Leitung einen ehemaligen Nazi hörte, wortlos den Hörer an seine Frau weiter. Traf er im Ort ehemalige Nazis, so fuhr er, so schnell es ging, nach Hause und legte sich für einige Stunden ins Bett.
Manchmal wurde er von solch einer Panik ergriffen, dass er sogar bei seiner Weide außerhalb des Ortes die Nacht im Auto verbrachte. Auch bei Louis Grünberg waren Begegnungen mit einstigen Nazis nicht leicht, sodass er oft, wenn er sie bei Spaziergängen von weitem sah, nervös die Straßenseite wechselte.
Möglicherweise führte die Angst vor persönlichen Begegnungen mit ehemaligen Nationalsozialisten und auch vor einem Wiedererstarken des Nationalsozialismus dazu, dass viele der jüdischen Überlebenden erst Anfang der 80-er und 90-er-Jahre anfingen, ihre Erlebnisse aus den Internierungs- und Konzentrationslagern wieder geschichtlich aufzurollen und auch davon zu erzählen.
Auch wenn die aus dem Grauen der Lager zurückgekehrten Eltern versuchten, ihren Kindern eine schöne Kindheit zu geben, bemerkten diese doch oft zuhause eine bedrückende Grundhaltung.
Lea Mor erzählte: „Wenn ich Geburtstag hatte, verglichen die Eltern mein Lebensalter oft mit ihrem damals und erzählten von ihrer Kindheit, der Verfolgung, den Lagern. Meine so gute Stimmung verflog danach sofort. Aus der fröhlichen Stimmung wurde für mich eine traurige Stimmung des Gedenkens. Allgemein bekamen wir Kinder zu viel aus der Zeit des Holocaust mit, was wir in unserem Alter nicht hätten hören dürfen.“